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Was ist Yogatherapie? Ein Überblick

09.05.2022

Yogatherapie
© 2015, Ivan Blanco Vilar

Im Unterschied zu «einfach Yoga» ist Yogatherapie die Anwendung der klassischen Yoga-Techniken auf konkrete Beschwerden. Das Wort «Therapie» meint üblicherweise die Behandlung von Krankheiten. Dabei nimmt der Klient oft eine eher passive Rolle ein. In der Yogatherapie hingegen arbeitet die zu behandelnde Klientin aktiv an der Verbesserung ihres Wohlbefindens mit.

Rückenweh, Schlaflosigkeit oder eine bevorstehende Knie-OP: Oft ist ein bestimmter Schmerz oder ein bestimmtes Problem der Grund, weshalb Leute in die Yogatherapie kommen. Und genau hier beginnt die gemeinsame Reise. Schmerz entsteht letztlich durch Nervenimpulse im Gehirn. Dabei können Betroffene oft mehr tun, als zunächst angenommen.

Zum Beispiel Knieschmerzen

Nehmen wir an, eine Klientin hat Knieschmerzen. Viele Ärzte hat sie deswegen schon konsultiert, viele Internetseiten besucht. Nun hat sie die Wahl. Sie kann sich mit den Knieschmerzen identifizieren. Also «diejenige mit dem kaputten Knie» sein. Und alle ihre Handlungen darauf ausrichten: auf das, was schmerzt, was kaputt ist und was «nicht mehr funktioniert». Eine andere Möglichkeit wäre, herauszufinden, welche Bewegungen sie trotz ihres schmerzenden Knies noch gut machen kann. Gibt es eine Möglichkeit für sie, sich schmerzfrei hinzusetzen? Und wieder aufzustehen? So lernt die Klientin neue, vielleicht für sie ungewohnte Bewegungen. Gleichzeitig konzentriert sie sich auf etwas Positives – und stärkt damit ihre Zuversicht.

Die Macht der Zuversicht

Yogatherapie kann nicht zaubern. Und manchal auch keine notwendige Operation ersetzen. Unzählige Studien belegen aber die heilende Wirkung echter, von innen heraus gewonnener Zuversicht. Wir haben die Wahl, uns entweder mit den Schmerzen zu identifizieren oder mit den noch vorhandenen Kompetenzen unseres Körpers. Viele Orthopäd*innen raten zudem allzu schnell zu einer Operation. In der Yogatherapie versuchen wir gezielt, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Dies kann vor einer Operation sinnvoll sein, alternativ dazu, oder natürlich in der Nachsorge. Auch bei psychischen Krankheiten, Stress oder Schlaflosigkeit gibt es gute Erfolge mit Yogatherapie.

Es macht keinen Sinn, einmal pro Woche im Yogaunterricht die Wirbelsäule aufzurichten, um dann schon auf dem Weg nach Hause wieder in den gewohnten Rundrücken zu verfallen.

Kleine Gewohnheiten im Alltag

Egal um welches Symptom es sich handelt: Yogatherapie fängt mit dem Machbaren an. Ganz konkret nehmen wir auch die kleinen Alltagsbewegungen unter die Lupe, denen sonst niemand Beachtung schenkt . Wie stehst Du am Morgen auf? Wie setzt Du Dich auf den Stuhl? Wie stehst Du wieder auf?
Es macht keinen Sinn, einmal pro Woche im Yogaunterricht die Wirbelsäule aufzurichten, um dann schon auf dem Weg nach Hause wieder in den gewohnten Rundrücken zu verfallen. Wenn wir also damit anfangen, auch im Alltag unsere Bewegungen «therapeutisch» auszuführen, können wir viel erreichen. Neurologisch gesprochen arbeiten wir dann mit Neuroplastizität, also mit der Fähigkeit des Gehirns, sich so zu verändern, dass es optimal auf neue äusserliche Einflüsse und Anforderungen reagieren kann. Dabei werden auch neue Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen (Synapsen) gebildet. Indem wir uns also erlauben, aus den gewohnten Mustern der Alltagsbewegungen auszubrechen, erlauben wir auch unserem Nervensystem, sich weiterzuentwickeln.

10 funktionelle Fertigkeiten der Yogatherapie

In der Yogatherapie lernen wir also, uns neu – nach den eigenen Möglichkeiten – zu bewegen.  Wie sieht zum Beispiel eine gesunde Aufrichtung der Wirbelsäule aus? Welche Übungen helfen konkret, einem drohenden Bandscheibenvorfall entgegenzuwirken? Das Bewegungssystem braucht Bewegung, um gesund zu bleiben, «the locomotive system needs locomotion», sagen Günter Niessen und Katharina Lehmann. Zu ihrem Ansatz der Yogatherapie gehören die folgenden 10 funktionellen Dimensionen: Schmerzfreiheit, Achtsamkeit, Entspannung, positive Gefühle, Kraft und Ausdauer, Stabilität, Alignment (besonders unter Belastung), Mobilisation und Traktion, Bewegungsradius, Flexibilität, Koordination und Gleichgewicht, Kreativität sowie Entgiftung und Alltag. Dies mag zunächst alles banal klingen, ist aber sehr umfassend. Die meisten dieser Prinzipien haben eine Entsprechung in den Yoga sutra, einem zentralen Ursprungstext des Yoga,d er zwischen 800–1200 n.Chr. entstanden sein soll.

Bewegung für die Knochen

Schauen wir nun auf unser Bewegungssystem im Detail und beginnen wir bei den Knochen. Über 200 verschiedene Knochen bilden unser Stützsystem. Dabei ist dies keineswegs statisch. Rund 7 % unserer Knochen bilden sich jede Woche neu! Das Knochenmark ist gut durchblutet. Es ist für die Neubildung unserer Blutzellen verantwortlich und zu einem grossen Teil für unser Immunsystem. Knochen haben auch einen Einfluss auf unseren Stoffwechsel. Wollen wir unseren Knochen etwas Gutes tun, setzen wir sie einer gewissen Belastung aus, denn Druck ist der Bildungsreiz der Knochen.   

Im Yoga praktizieren wir deshalb zum Beispiel den Vierfüssler (Majariasana), den Hund (Adho mukha svanasana), den Stuhl (Utkatasana) oder verschiedene Stütz- und Standpositionen.

Knorpel brauchen Zug und Druck

Abhängig von der Durchblutung der angrenzenden Knochen sind die Knorpel. Sie wirken als Stossdämpfer und sorgen dafür, dass unsere Gelenke sich möglichst ohne Reibung bewegen können. Weil sie aber in der Belastungszone keine ernährenden Blutgefässe haben, sind sie eher zäh, träge und heilen schlecht. Ihre Nährstoffe beziehen sie durch Diffusion aus der Gelenkflüssigkeit. Dabei funktionieren unsere Knorpel wie ein Schwamm. Um gesund zu bleiben, brauchen sie nicht nur Druck, sondern auch Zug. Druck und Zug ist der Bildungsreiz der Knorpel.

Im Yoga bedeutet diese, dass wir unsere Gelenke auch mal unter Zug hängen lassen oder eben Zug und Druck auf die Gelenke ausüben.

Muskeln: Zwischen An- und Entspannung

Unsere rund 650 Muskeln sind verantwortlich für unsere Haltung, Kraft, Ausdauer und Stabilität. Ausserdem schützen sie uns vor Schmerz! Deshalb ist es sehr wichtig, sie regelmässig zu kräftigen. Und dies machen wir, indem wir sie regelmässig an- und auch wieder entspannen. Während in der Anspannungsphase die Durchblutung des Muskels gedrosselt wird, kann sich der Muskel in der Entspannung wieder mit Nährstoffen versorgen.

Im Yoga gehen wir deshalb bewusst nach einer anstrengenden Übung in eine kurze Entspannung. Dies macht auch aus physiologischer Sicht absolut Sinn.

Yoga – ein unerschöpflicher Schatz

Eine regelmässige, ausgeglichene Yogapraxis enthält Kraft-, Stabilisierungs-, und Entspannungsübungen. Sie ist ein schier unerschöpflicher Schatz, für Gesunde, aber auch für Menschen mit körperlichen oder psychischen Beschwerden. Auch aus Sicht der modernen Medizin hat Yoga auf dem Weg zur Heilung Einiges zu bieten. Wir müssen nur bereit sein, es zu entdecken.